Rund um die Rauhnächte ranken sich Mythen, Bräuche und Rituale, welche viele Jahrhunderte alt sind – so zeugen die Tage zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar noch immer von einem sagenumwobenen Zauber.
Lange wusste ich nicht, wie ich diesen Beitrag beginnen sollte – ist mir doch das Dasein vor dem leeren Blatt, das mit bedeutungsschwerem Inhalt gefüllt werden möchte, gar zu vertraut. Eine weitere Hürde stellte außerdem die Frage dar, was und vor allem wie viel ich von mir und meinen sehr persönlichen Erfahrungen zu den Rauhnächten preisgeben möchte, denn immerhin bin ich in den Weiten des Internets so etwas wie eine öffentliche Person. Das ist kein Grund, sich in die analoge Lethargie zu „verkriechen“ – immerhin ist dies das primäre Ziel meiner journalistischen Tätigkeit: Sehen und gesehen werden.
Ich meine damit jedoch nicht irgendwelche narzisstischen Plattitüden, von welchen die zur Selbstdarstellung verkommenen sozialen Netzwerke überflutet werden, sondern vielmehr die Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen und adäquat wiederzugeben. In diesem Sinne möchte ich mich auch jetzt nicht davon abhalten lassen, einen kleinen Einblick in meine Gefühlswelt zu gewähren.
Magische Nächte
Apropos Selbstdarstellung… googelt man das Wort „Rauhnächte„, werden einem diverse Anzeigen mit dubiosen Selbstoptimierungskursen präsentiert, welche bestenfalls noch mit kitschig-nebulösen Werbebannern à la Bob Ross untermalt sind. Darin wird dann vielsagend davon gesprochen, die Zeit zwischen den Jahren zu nutzen, um endlich zu sich zu finden, zehn Kilo abzunehmen und den Mann (oder die Frau) des Lebens zu finden. Es steht wohl außer Frage, dass jene irrigen Annahmen dem wahren Sinn der Rauhnächte nicht auch nur im Ansatz gerecht werden: Tatsächlich gehen die zwölf heiligen Nächte (jede Nacht steht jeweils für den zugehörigen Monat des neuen Jahres) auf eine jahrhundertealte Tradition der Germanen zurück und dienten dem Zweck, sich vor unheilvollen Geistern und Dämonen zu schützen. Mancherorts galten diese Nächte als derart gefährlich, sodass es etwa verboten war, Wäsche zu waschen und diese aufzuhängen – schließlich könnte die Wäsche an der Leine von wilden Reitern gestohlen und anschließend als Leichentücher verwendet werden! Abseits dessen verstand man jene dunklen Nächte als einen Aufruf zur inneren Einkehr, in welcher die geistigen Energien Verbindung zur realen Welt suchten. Des Weiteren dienten sie dem Zweck, das Vergangene loszulassen und einen Blick in die Zukunft zu wagen – begleitet von Räucherungen und Traumdeutungen.
Leben ohne Filter
Wie habe ich also die Rauhnächte begangen und was haben sie mir gebracht? Pardon – Letzteres muss gestrichen werden… alles kann, nichts muss. Frei nach jenem Motto begann ich jeden einzelnen der zwölf Tage mit einer morgendlichen Mediation (sei es Qigong oder Taijiball), gefolgt von einer Mittagsroutine, bei welcher ich die Wünsche für den jeweiligen Monat in einem Tagebuch festhielt. Nachmittags ging es dann meist auf ausgedehnte Spaziergänge mit wunderschönen Sonnenuntergängen, die den Himmel in ein betörendes Rot tauchten. War es dunkel, folgte das wichtigste Ritual des Tages: das Räuchern.
Anfangs stellte ich mich noch etwas unbeholfen an – die Kohle ließ sich nicht so recht entzünden und auch das Räucherwerk schien sein Eigenleben zu entwickeln. Dies stand wiederum sinnbildlich für meine geistige Verfassung: So vernahm ich während der ersten vier Tage eine innere Unruhe, die sich partout nicht abschütteln ließ und mich bis in den Schlaf begleitete. Ab dem fünften Tag schienen sich jene nervösen Gemütszustände wie in Luft aufgelöst zu haben. Es war, als hätten sich mir die Tore zu einem neuen Bewusstsein geöffnet – auch das Räuchern nahm ich nun mit anderen Sinnen wahr. Das war ein befreiendes und zugleich beklemmendes Gefühl, sich selbst ohne jeglichen Filter zu ergründen – wobei auch die eine oder andere unbequeme Wahrheit zu Tage trat. Dieses Gefühl der absoluten Unmittelbarkeit ließ mich auch die nachfolgenden Tage nicht los. Es war, als würde ich einer Person begegnen, die mir fremd und doch so vertraut war.
Ein neuer Geist
Das mich jene Gefühle derart erschütterten, mag auch damit zusammenhängen, dass ich den Sinn und Zweck meines Lebens lange über die Ratio zu ergründen versuchte – ein Seiltanz, der mich schon seit meiner Kindheit begleitet. Meine Fähigkeit zum analytischen Denken ist etwas, wofür ich grundsätzlich sehr dankbar bin – weil mir hierdurch Ressourcen geschenkt wurden, durch welche ich viel erreicht habe. Doch die Erfahrungen mit dem neuen „Selbst“ haben mich an das Grundproblem meiner Existenz geführt: Während ich in der Vergangenheit stark in der Kopfebene verhaftet war, spielte meine Gefühlswelt – der Bauch – lange Zeit keine Rolle. Also habe ich versucht, das Leben zu „zerdenken“.
Ich bin daran nicht unbedingt gescheitert, aber dennoch wurde ich regelmäßig in mentale Sackgassen geführt, da es in dieser wundersamen Welt nun einmal Dinge gibt, die rational nicht zu begreifen sind. Somit ist für mich die Essenz aus den Rauhnächten, dass ich mich selbst nicht nur als denkendes, sondern gleichsam als ein fühlendes Wesen begreifen darf. Meine Aufgabe wird somit sein, beide Welten in einen harmonischen Einklang zu bringen. Diese Aufgabe erscheint mir gar zu groß – es ist, als stünde ich vor einem Ungetüm von Berg, den es zu bezwingen gilt. Alles, was mir demnach bleibt, ist, mein Bestes zu geben und mich darin zu üben, mir jenes Mantra immer wieder von neuem ins Gedächtnis zu rufen. Es klingt so profan und doch erscheint mir dies als die größte Herausforderung meines bisherigen Lebens. Ob ich dem gewachsen bin, vermag ich nicht zu sagen – das kommende Jahr wird es zeigen.
Hallo Yoko,
vielen Dank, dass wir an Deinen Rauhnachterfahrungen teilnehmen dürfen. Wie vertraut ist doch das Dilemma zwischen Kopf – und Bauchhirn. Das ewige Spiel zwischen Yang und Yin. Daran dürfen die meisten von uns noch arbeiten. 🙂
Hallo Ivo – danke für deinen Input. das ist wohl ein ewiger Kreislauf… und ein Schwanken zwischen zwei Extremen. Ist man im Kopf, erscheint das Bauchgefühl nebensächlich. Ist man im Bauch, ist man gar zu verleitet, das Denken beiseite zu schieben. Gar nicht so leicht, die Balance zu halten. Wie du schon sagtest – die Grenzen zwischen Yin und Yang sind fließend!